UX Design & Kulturwissenschaft
Ich habe Kulturanthropologie studiert und ein bisschen mein Herz an diese Wissenschaft und Art des Denkens verloren. Vermutlich ist das auch der Grund, warum es mich in Richtung des UX Designs gezogen. Aber was haben denn UX Design und Kulturanthropologie gemeinsam?
Was ist Kulturanthropologie
Es ist eine Wissenschaft mit vielen Namen. Früher hieß sie Volkskunde. Aber aufgrund des überkommenen und im deutschen Sprachgebrauch in Missgunst geratenen Begriffs „Volk“ wurden im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts andere Namen gesucht. Die einen sind bei Kulturanthropologie gelandet, ein anderer, weit verbreiteter Begriff ist aber auch die europäische Ethnologie oder zuweilen einfach Kulturwissenschaft.
Die Kulturanthropologie beschäftigt sich damit, unsere eigene Kultur zu verstehen und zu erklären. Das ist aus zwei wesentlichen Gründen spannend: Zum einen wird hier das erforscht, worin der Forschende selber verwickelt ist: Verhaltensweisen, Objekte, Rituale und Traditionen. Das heißt, der Forschende muss davon ausgehen, massiv und zu einem Gutteil unbewusst, befangen zu sein (biases). Dem muss er mit enormer Reflexion und Dokumentation so weit es geht entgegenwirken. Zum anderen haben wir keine eigene Kultur.
Was ist Kultur
Kultur ist hier nichts, das jemand oder eine Gruppe von Menschen hat und eine andere nicht. Es handelt sich nicht um etwas, das einer Nationalität, sozialen Schicht oder Ethnizität zu eigen ist. Im Gegenteil sind letztere Eigenschaften Phänomene kultureller (und auch soziologischer) Identifikationsmechanismen. Frei nach dem oft zitierten Clifford Geertz handelt es sich bei Kultur um ein Gewebe aus Bedeutungen, das in fortwährender Bewegung ist und dessen Fäden sich ständig lösen, verbinden, sich auflösen und woanders neu entstehen. Es handelt sich um einen semiotischen Kulturbegriff (Semiotik = die Lehre der Zeichen). Demnach sind die Dinge, die uns umgeben, die wir wahrnehmen und mit denen wir interagieren sowie unsere Handlungen und unsere Kommunikation untereinander Zeichen. Und die Bedeutung dieser Zeichen ist nicht festgeschrieben, sie ist nicht inhärent oder gegeben. Sie wird im Moment der Interaktion selber verliehen und variiert. Wenn beispielsweise ein Missverständnis zwischen zwei Menschen entsteht, deuten sie Zeichen anders als ihr gegenüber, sie reden „aneinander vorbei“, zwischen dem Gesagten oder Getanen und der Bedeutung, die beim Anderen entsteht, gibt es eine Lücke, der Faden fehlt.
Die Verbindung zu UX
Für mich ist UX angewandte Kulturanthropologie. Wir operieren mit Objekten, Zeichen, und untersuchen, welche Bedeutung ihnen beigemessen wird. Und dieses dabei entstehende Wissen nutzen wir, um Prozesse, Abläufe und Produkte so zu gestalten, dass sie in das Bedeutungsgewebe ihrer Nutzer passen. Gerne verwendet wird der Begriff des mentalen Models. Und er bezeichnet nichts anderes als das, was ein Mensch in seinem Leben für Assoziationen geknüpft hat. Das mentale Model erklärt, dass von allen Objekten, denen ein Nutzer begegnet, ein Faden zu einer Erinnerung, einer Emotion oder einer Erfahrung führt, der ihm hilft, jenes Objekt zu kontextualisieren und in den Zusammenhang des Augenblicks einzuordnen.
Und diese Fäden sind, wenn man auch sicherlich aufgrund von gesellschaftlichen Phänomenen Abstraktionen und Vorhersagen ableiten kann, immer unterschiedlich, bei jedem Menschen. Niemand hat den gleichen Hintergrund, die gleichen Erfahrungen oder dieselbe Geschichte. Und die Fäden sind, wie anfangs beschrieben, in ständiger Bewegung. Dazu ein Beispiel aus der jüngsten Datenschutzdebatte.
Das Consent Banner
Das Consent Banner hat, reduziert man es auf seine essenziellen interaktiven Elemente, zwei Buttons: Cookie und Datenerhebung erlauben sowie die Ablehnung desselben. Als die Consent Banner im Rahmen sich verschärfender Datenschutzrichtlinien aufkamen, waren sich nahezu alle User einig, dass im Interesse der Nutzer die Ablehnung der Datenerhebung stehen muss, da es um den Schutz seiner Persönlichkeitsrechte geht. Damit war klar, die ethisch korrekte Entscheidung ist die Ablehnung des Trackings zum primären Button zu machen.
In den allermeisten Fällen jedoch setzten sich die Stimmen innerhalb der Unternehmen durch, die nicht auf die kostbaren Zahlen und Daten verzichten wollten. Also sahen wir das Dark Pattern des prominenten „OK“ und der marginalisierten und verkomplizierten „mehr über die Datenerhebung erfahren“ nahezu überall.
Aber die Nutzer haben das verstanden. Sie alle haben sich daran gewöhnt, den kleinsten Link im Content Banner zu suchen, denn sie wussten, diese Aktion ist nicht im Interesse des Unternehmens, muss also in ihrem Interesse sein.
Bedeutungen haben sich durch das omnipräsente Dark Pattern verschoben, im Kontext eines Cookie Layers war nicht mehr der große grüne Button die primäre Interaktion, sondern der kleine unauffällige Textlink. Und damit wurde die ursprünglich einmal ethisch korrekte Wahl im Layout zur Verführung der Nutzer.
Fazit
UX Design und Kulturanthropologie beschäftigen sich beide mit sich ständig verschiebenden Bedeutungen und den daraus erwachsenden Konsequenzen für die Menschen dahinter. UX Design versucht auf diesen Lehren basierend bessere, leichter zu bedienende und menschenfreundlichere Produkte und Oberflächen zu gestalten.